"Das Leben ist nicht zum Glücklichsein."

Es ist ein grauer und regnerischer Sonntagnachmittag und ich bisher habe ich wieder nichts nützliches gemacht. Das Bett ist noch unordentlich vom Morgen, die Klamotten liegen wie eine Spur nur ohne Leidenschaft auf den Holzdielen und auf dem Schreibtisch lagert ein unordentliches Gemenge aus Pinseln, Farbtuben und Stiften. Ich sitze am Fenster, durch das die Kälte zieht, aber die Heizung wärmt immerhin meine Beine. Eigentlich müsste ich den Müll rausbringen, aufräumen und vielleicht Sport machen, aber ich habe keine Lust. Also fahre ich meinen Laptop hoch und klicke auf das blaue Symbol mit dem weißen S und rufe A an.

A ist der Mensch, mit dem man Gespräche führen kann, so tief, dass man meint auf dem Grund des Meeres anzukommen. Mit ihr sind die Unterhaltungen echt und wir ergänzen unsere Gedanken mit den Worten, die wir aussprechen von ganz allein. Das klingt alles so geschönt und hoch gestochen, aber kennt ihr das? Mit echten Menschen befreundet zu sein?  Oder es nicht zu sein?  In der Schulzeit, als wir alle noch aufeinander hockten und uns jeden Tag sahen ist er mir schon aufgefallen. Der Unterschied zwischen den Menschen, die echt sind und die, die es nicht sind. Das sind diejenigen mit denen man nur über Oberflächliches sprechen kann, manche Konversationen schon öfter geführt hat und einfach nicht voran kommt. Als würde man durch Treibsand gehen wollen. Die Menschen, die sich mit dir treffen, um sagen zu können, sich mit dir getroffen zu haben, die dir aber selbst nichts von Substanz zu sagen haben. Die Menschen, die scheinbar immer gut drauf sind und sich mit jedem verstehen wollen, aber dabei nicht ganz sie selbst sind. 

Sie sitzt auf ihrem Bett in einer Wohnung in Bordeaux, hinter ihr eine kahle Wand. Wir haben schon länger nicht mehr geschrieben - ihr Handy ist wieder mal kaputt und so ist unser Kontakt ein wenig beschränkt. Aber das geht, Australien haben wir ja immerhin auch schon überstanden. Sie sieht traurig, als sie erzählt. Vom Leben, ihren Träumen und Ängsten und wirkt dabei irgendwie müde. "Weiß du, D hat in Australien gesagt, dass das Leben nicht zum Glücklichsein ist. Und ich war total fertig deswegen. Denn wenn ich mir einen Sinn für das Leben ausdenken müsste, dann wäre es das Gefühl, das man hat, wenn ganz tief berührt ist vor Glück und Freude und Inspiration. Ich war so naiv. Ich dachte ich gehe für ein Jahr nach Bordeaux, baue mir als Aupair nebenbei etwas auf und bleibe dann hier, um zu studieren. Und jetzt habe ich keinen Job, kann mir mein Zimmer kaum leisten, hier sind nicht meine Menschen - es ist einfach scheiße. Aber weißt du was ich jetzt begreife? Das Leben ist wirklich nicht zum Glücklichsein." Ich sehe sie nachdenklich an. "Es heißt ja nicht, dass du nicht glücklich sein darfst oder es nicht bist, aber das Meiste lernt man in den schwierigeren Teilen des Lebens und nicht, wenn es einem gut geht. Ich habe so zu schätzen gelernt, was es heißt ein zu Hause zu haben, Freunde, die für dich da sind und denen du einfach blind vertrauen kannst. Ich hatte immer Fernweh und wollte weg und jetzt weiß ich, dass ich nicht unbedingt einen anderen Ort braucht, um glücklich zu werden." 

Das aus A's Mund zu hören ist schon ein bisschen erstaunlich, wo sie doch immer ihre Flügel ausbreitet und auf den nächsten Wind wartet, der sie weg trägt. Aber sie hat Recht, denke ich. Man kommt im Leben nicht voran, wenn man nicht lernt. Und woraus kann man besser lernen, als aus Situationen, in denen man nicht unbedingt glücklich ist, in denen man merkt, dass es noch andere Wege gibt, die man wählen kann? Dinge zu schätzen lernt, die man für selbstverständlich angesehen hat. Und Antworten auf Fragen zu finden, die man sich vorher gar nicht gestellt hat. 

Ich sehe sie an und weiß, dass sie in einer wirklich beschissenen Situation ist. Dass es ihr nicht gut geht und sie so zu sehen tut mir weh. Aber ich weiß, dass es auch wieder bergauf geht, dass es sie stärker macht. Und wenn sie das nächste mal ihre Flügel ausbreitet und bereit zum Absprung ist, wird sie merken, wie wichtig es ist das kleine Glück zu spüren. Denn vielleicht muss es nicht immer der wagemutige Absprung sein oder der große Flug. Vielleicht reicht manchmal auch das Wissen über sich selbst, was man bereit wäre zu tun.

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